Mohamad alameri
Jordan

18.09.2004

-1-

MidadAls ich ausgewählt wurde, um am „Stadtschreiber“-Projekt teilzunehmen, gab es einen Augenblick – so wie ein kurzes Aufblitzen -, der mich in die Kindheit zurückversetzte. Mein Vater träumte davon, nach Deutschland zu gehen, und es hätte nicht viel gefehlt, und sein Traum wäre Wirklichkeit geworden. Doch mein Großvater hatte wohl in einem Moment gespürt, dass er seinen ältesten Sohn verlieren würde, der ihm bei den Stammensangelegenheiten zur Seite stand. Die Welt meines Großvaters Ibrahim, Scheich des Stammes der al-Amiri, verbot ihm zu reisen und befahl ihm an seiner Seite zu bleiben. So endete der Traum meines Vater; er starb, bevor er Deutschland sehen konnte. Und jetzt, da er sich in seinem ewigen Schlaf befindet, sage ich zu ihm: „In den Fußstapfen deines Traumes werde ich nach Deutschland gehen, sei unbesorgt.“ Denn ein Traum kann selbst dann noch Wirklichkeit werden, wenn wir schon gestorben sind. Der Traum ist ein Stammbaum, der nicht endet; er ist die stete Fortsetzung des Lebens, lässt stets aufs Neue staunen.

-2- Internationaler Flughafen Amman, morgens, ein Moment der Tränen

Bei einem merkwürdigen Abschied, fast wie eine Flucht, verbarg sich in den Augen meines Bruders Djihad und meines Freundes, Doktor Mua’id, der mich zum Flughafen gefahren hatte, eine tiefe Traurigkeit. Ich war beklommen, hing noch fest an meinen Lieben - Ilham und Aschtar, Nawaf und Farah – meine Sprösslinge, die einer Lichterkette gleichen, und die mein Chaos und mein Durcheinander immer wieder in Ordnung bringen. Es war ein Moment schimmernder Tränen und unterdrückter, verborgener Zuneigung. Deshalb verbarg ich meine Verwirrung und meine Tränen und beeilte mich, die Abfertigungshalle zu betreten, um so die Seele von der Last der Tränen zu erleichtern. Mir wurde klar: der Orient ist die Hitze des Gefühls auf der Erde.

-3- Palästina und Bagdad – das Original und der Spiegel

In der Cafeteria des Flughafens traf ich einen Iraker, der im Rollstuhl saß. In seinem warmen irakischen Dialekt sprach er mich an: „Deinen Augen nach musst du Jordanier sein.“ Ich bejahte, worauf er sagte: „Mein Lieber, wir haben doch nur Euch, bitte sei mir behilflich, in Gottes Namen.“ Und ich zeigte ihm das Gate für Reisen nach Chicago und ließ ihn seine Erinnerungen an Bagdad erzählen; Erinnerungen an eine Zeit ohne Besatzung, aber voller schmerzhafter, psychischer Besatzungen. Ich sagte zur mir selbst: „Mohammad, hat dich das Schicksal ausersehen, der Schoß zu sein, der die irakischen Schmerzen auffängt?“, als im gleichen Moment ein junger muskulöser Mann namens Ihab in Begleitung einer ausländischen Frau, seiner deutschen Ehefrau Julia, auftauchte. „Entschuldigung, haben Sie Feuer?“ Und dieses Feuer entzündete die Zigarette und die Traurigkeit des jungen Mannes und die Erinnerungen an sein Dorf, al-Yamun in Palästina. Ich fragte ihn, was ihn veranlasst hatte, nach Deutschland zu gehen, und er antwortete: „Das tägliche Brot und die Freiheit. Ja, die Freiheit und nichts anderes. So taten wir uns zusammen, ich, Ihab und Julia, bis wir den Frankfurter Flughafen erreichten. Ich blieb im Flugzeug Richtung München sitzen und sagte mir: „Freundschaften sind nicht flüchtig an einem flüchtigen Ort.“

-4 – Grünes Fenster

Ein junger Ägypter namens Naser ad-Din Yasin erwartete mich, eilte auf mich zu und sagte: „Gottlob sind Sie gesund angekommen, mein Herr.“ Er freute sich, als hätte er jemanden von seiner Familie getroffen. Wir machten uns auf zum Bahnhof in Richtung München – die Stadt, von der ich im Zug schreiben werde. Anfangs unterhielten wir uns über Kairo und über meine Liebe zu dieser Stadt, und wir sprachen über das Café Riche, die Kairener, über das Stadtviertel as-Sayyida Zainab, um das Gespräch schließlich ein weiteres Mal auf das System und die Freiheit des Einzelnen zu lenken, wobei wir erstaunliche Vergleiche zwischen unseren Ländern und dem Westen, speziell Deutschland anstellten, und Naser sagte in seinem ägyptischem Dialekt: „Hier läuft alles in geregelten Bahnen. Man kann hier alles machen, man darf nur Niemandem Schaden zufügen.“ Und dann fragte er mich, was mir denn besonders auffalle und ich antwortete direkt: „Alles ist so grün hier.“ Ja, das Zugfenster glich einem impressionistischen Gemälde, dessen Farben sich bewegen wie durchdringende grüne Musik; ein Fenster, das die Szene eines Paradieses zeigt, getränkt von der Umarmung Liebender – ihre Umarmung, fiebernd nach Freiheit und Hingabe wie emporschießendes Wasser. Jene Szenen erinnern mich an meinen Geburtsort in Qali’at Tahidan im Jordantal, besonders im Februar und März. Es ist die Erinnerung, die dich immer dorthin mitzieht, wo die Seele grünt und in den Himmel der Freiheit aufsteigt.

-5 – München, 12 Uhr Mitternacht, Confifi-Bar, Blue House

Ich liebe es immer, in Städten, die ich zum ersten Mal besuche, mich zunächst einmal allein treiben zu lassen, zu entdecken und mich ganz auf Abenteuer einzulassen. In Gebiete, Rhythmen und Widersprüche einzutauchen, die mich erstaunen lassen. Das Erstaunen des Dichters, der eine geheimnisvolle Geliebte erwartet. So ging ich ziellos umher, bis ich einen Platz erreichte, der vor Tanz, Alkohol und ineinander verschlungenen Händen überschäumte. Denn München rüstete sich für sein traditionelles Festival, das Bier- oder Oktoberfest. Ich begann, den Gedanken zu verdrängen, wie ich wohl zurück ins Hotel finden würde, als meine Konturen sich in den Menschengruppen auflösten, dort, wo Paukenschläge, Musik, Tanz und Umarmungen mich ins pralle Leben zogen. Es war wie eine Wiedergeburt, die die Jugend zurückbringt und meinem Innern neue Energie zuführt – ich hätte fliegen können!
Nach dem Tanzfest ging ich in die Confifi-Bar und setzte mich an den Tresen. Die erste Frage, die an mich gerichtet wurde, kam vom einem jungen Mädchen namens Christina; ein Mädchen, das einem geröteten Apfel glich; ganz so, wie ich mir Schamesröte vorstelle. Aber Christina war ständig von dieser Farbe übergossen! Sie fragte mich, ob ich aus dem Orient sei, und ich sagte: „Ja, aus Jordanien“, und sie fragte weiter, warum ich hier sei, worauf ich sagte, dass ich hier sei, um über diese Stadt zu schreiben. Ihr Erstaunen hielt an, als sie erfuhr, dass ich Dichter und Künstler sei, und sie erzählte ihren Kollegen und ihrer Chefin, was sie über mich erfahren hatte und behandelte mich schließlich fast wie einen Heiligen. Es war ein Moment des Respekts vor der Kreativität und vor dem, von dem sie ausgeht. Christina ging weg, um Kundenbestellungen aufzunehmen. Als sie zurückkam, fragte sie mich nach der Bedeutung meiner Tätowierung auf dem linken Unterarm. Ich merkte, dass die Tätowierung einen Zusammenhang mit dem Gedanken an Himmel und Nacht in ihr wachrief, und erklärte ihr, dass es sich um Stern und Sichel handle. Dann ging Christina wieder fort, und Djibran kam. Ein junger Mann mit arabischen Gesichtszügen; ein Spanier, der viel wusste und ein Gespräch über den Schriftsteller Djibran begann, bis ich mir einbildete, er, der Libanese Djibran Khalil Djibran, teile den Wein mit uns. So verbrachte ich diese verrückte Nacht mit Djibran dem Künstler und Djibran dem Spanier. Es ist wohl die reine Seele, welche geographische Grenzen aufhebt und hier, auf der Seite des Lebens, steht.

19.09.2004

München am Morgen des 19. 9. 2004

Die Stadt sah aus wie eine Braut, die auf ihre Hochzeit wartet. Für den Empfang zum Oktoberfest war ich früh aufgestanden. Zum Fest war alles genaustens vorbereitet, und der morgendliche Verkehr war so lebhaft, als eilten die Menschen ihrem Paradies zu. Ich begann umherzulaufen und umherzuschauen und fand mich schließlich auf einer Straße mit vielen Menschen verschiedener Nationalitäten wieder. Sie trugen traditionelle Kleidung, meist aus Leder gefertigt und mit floralen Ornamenten verziert. Ich wartete auf Julia, die mich zu diesem Fest begleiten sollte. Da sah ich plötzlich Herrn Khaldun Abu Hassan, einen bekannten ehemaligen Minister und Ökonomen. Wir begrüßten uns, und er machte mich mit seiner Tochter bekannt. Das Fest begann, und dort, wo sich alle Zuschauer befanden, blieben auch wir stehen. Plötzlich war Julia neben mir, denn ich hielt mich an unserem vereinbarten Platz auf. „Und, was hältst du von dem Fest“, fragte sie mich, und ich sagte: „Ganz Deutschland mitsamt seiner Geschichte zeigt sich hier. Die Bilder spiegeln deutsche Folklore wider, angefangen beim Brauereigewerbe bis hin zu traditionellen Waffenszenen. Es ist ein historischer Moment: Millionen Menschen sind in einen mythischen Ritus eingetaucht. Die komplette Szenerie hat eine klare Botschaft: Stärke und Frieden.“

Szenen und Rituale

1 - Szene mit alten Pferdekutschen

Kutschen, die wie wandelnde Baumstämme aussehen, so als wolle derjenige, der sie mit Zweigen geschmückt hatte, sie wieder in den Wald zurückbringen: diese Kutschen, mit quietschenden Rädern von schweren Pferden gezogen, haben Verliebte, Pärchen und Kriegsveteranen geladen. Der Pferdegeruch brachte mir meine Energie zurück, und die Karnevalsmusik ließ alles hier in Begeisterung ausbrechen. In früheren Zeiten entfachte diese Musik den Kampfgeist bei den Kriegern; heute ist sie wie ein unendlicher Raum, der zum Tanzen und Lauschen einlädt und alles in einen Freudentaumel taucht.

2 - Deutschland zu Pferde

Es war ein hinreißender Anblick: die schönsten Mädchen Bayerns strahlten wie Sonnen auf Pferderücken, deren Schwarz tief wie die Nacht glänzt; so, als erleuchtete die Sonne des Mädchens den Pferdeleib, der vor Lebenskraft und Männlichkeit strotzt. Diese Szene war wie ein Märchen, das sich soeben aus seiner fernen Zeit löst: Das Mädchen in seinem Schmuck, von den Speeren der Bayern bewacht, spiegelt die Schönheit und die Tiefe der bayrischen Kultur wider. Das unterstreicht, wie eng Entschlossenheit und Stärke beieinander liegen.

3 - Das Bier und das Gastmahl

Zwei große, schwere Männer trugen ein Schwein an einem Holzstamm hängend herbei, den sie im Wald gefällt hatten. Ein breiter, mit Bierfässern beladener Wagen rollte vor ihnen her. Mir erschien diese Szene wie ein Siegesmahl, und die ganze Szenerie beherrschte mich derart, dass ich – von einer historischen Blindheit befallen – zu frühen Epochen zurückkehrte, samt ihrem Genuss und ihrer Grausamkeit. Man spürt, dort ist das Leben, und der Mensch bleibt immer Mensch.

4 - Traditionelle Waffenszene

Die Waffen von damals, mit denen sich Bayern verteidigte, sind heute mit Blumen versehen; sie stecken in den Läufen und verwandeln sie in Blumenvasen. Sie stehen für den Austausch von Liebe und Leben.

5 - Hundeszene

Hunde, die normalerweise Einbrechern nachspüren und Häuser bewachen, nehmen heute an der Freude der Leute teil. Sie laufen in der Spur, ohne vor der Menge zu erschrecken, und bewachen die Szene, die von trabenden Pferden und von dem nach Alkohol duftenden Atem der Liebespaare beherrscht wird. Es ist wie ein Elixier, dessen Wasser mit Lebensfreude und Sieg vermischt ist – schön und entzückend.

6- Spiegel des Susaphons

Was mich sehr beeindruckte, war jenes riesige glänzende Susaphon, das sich um den Bläser herumwickelte. Der sammelte Brennholz für seine Atemzüge, um sie im Bauch des glänzenden Metalls zu entflammen. Der spiegelnde Körper des Horns schlürfte die Bilder der Menschen, die ihn mit ihren schillernden Farben schmückten. Es sah aus wie ein Frauenkörper im Wellenlinien, wobei der Spieler nach Noten suchte, die diese Szenerie entfachten. Dieses Susaphon sog mich aus der Menge und zog mich in seine Tiefe; unterirdischen Gewölben ähnlich, von Küssen erhellt. Es war ein Moment des Freudenrausches, mit zuckendem Aufleuchten geschmückt – einem Leuchten, das sanfte Himmel aufdeckte, so sanft wie die knetenden Fingerbewegungen des Spielers. Dabei vermischt er alle Sinne der Liebe miteinander, um sie in die Seele der Szene eindringen zu lassen.

7 - Ausflug zur Kirche und zum Fluss

Mit Susanne, meiner Begleiterin, ging ich am Abend zu einem Fluss, der einem Silberbündel ähnelt, das sich um die Taille Münchens windet: die Isar. Ihr Wasser wandert Richtung Horizont, bis es sich vollständig im Himmelsraum verliert. Diese Szene von der Brücke aus vor Augen, glitt mein Blick auf zwei Reihen dichter Bäume, die den Fluss bewachen. Diese Bäume erleben den Fluss in allen seinen Phasen: wenn er seine hinteren Wiesen überflutet, wenn er zur Ruhe kommt oder wenn er kränkelt. Der Fluss und die Bäume gehören ein und derselben Familie an. Jedes Mal, wenn der Fluss sein Wasser ausstößt, wird eine neue Familie aus Grün geboren; die Familie der Liebe. Der Wind seufzt über seinem Spiegel, der den Himmel einsaugt. Das ist die größte Idee, die Idee des Lebens und seiner Erneuerung in jedem kosmischen Moment. Die Isar ist ein Band spiegelnder Lichter; sie benetzt dich mit bebender Hoffung auf ein Wiedersehen, so dass du sie nicht gern lassen möchtest. Sie ist wie das Haus des Wassers, das den Fremden benetzt.

8 – Zwei grüne Brüste

Da ist die Frauenkirche, und als ich Susanne nach dem merkwürdigen Namen fragte, sagte sie: „Schau nach oben, und du siehst zwei grasfarbene Brüste; daher hat sie ihren Namen. Zwei grüne Brüste, die Freude verheißen und den Katholiken grünliche Milch darreichen als Bitte um Vergebung.“ Diese Kirche, die Frau, die der Hochzeit der Weiber mit ihren Geliebten beiwohnte, ist die umfassende weibliche Idee für das ganze Universum. Der Mystiker Ibn Arabi hatte Recht, als er sagte: „Ist ein Ort nicht weiblich, ist kein Verlass auf ihn.“ Die Weiblichkeit dieser Kirche führte mich hin zu einer rätselhaften Lust, die man wohl verspürt, wenn man den reinen Gipfel der Liebe und der Verschmelzung der Seelen ersteigt. Sie ist die Frau, deren grünlicher Busen mir noch immer offene Fragen hinterlässt.

9 - Die Flussfigur

Dreißig Meter steigt sie vom Grund der Isar empor: eine Figur, die der Brücke gegenübersteht. Sie ist eine Zuflucht für die Ertrinkenden; ihre rechte Hand ist abgefallen, weil sie so viele Ertrinkende herausgeholt hat, bevor das Leben von ihnen wich. Steht man in der Mitte der Brücke, richtet sie ihren Blick direkt in deine Seele. Eine gütige Figur. Sie bewahrt dich vor der Kälte des Todes. Ich spürte, wie sie vom Honig des Flusses trinkt, um den Durst ihres Marmors zu löschen. Sie bewacht ihre Besucher, als sei sie die Gastgeberin, die dich in deiner Einsamkeit unterhält und deine Grüße erwidert. Ihre steinernen Augen verfolgen dich solange, bis dein Schatten verschwunden ist. Nie müde vom aufrechten Stehen gegenüber der Brücke, führt sie die Bäume über den Fluss.

10 - Die Fahrräder

Was mich sehr neugierig gemacht hat auf München, sind die Unmengen von Fahrrädern auf den Straßen und Wegen. Jetzt kenne ich das Geheimnis der Menschen, die so behände sind und sich so schnell fortbewegen. Die Fahrräder sind charakteristisch für München. Als ich im Herzen der Stadt umherlief, dachte ich, es fände aus irgendeinem Anlass ein Fahrradrennen statt. Eigentlich ersetzen die Menschen den Treibstoff für die Fahrräder durch den Treibstoff ihrer Körper, was verdeutlicht, dass dieses Volk sehr darauf bedacht ist, Verabredungen pünktlich einzuhalten. Die Radfahrer sind eine Ader Münchens. Ich vergesse nicht die über achtzigjährige Frau, die mit dem Fahrrad unterwegs war, und ich musste sofort an unsere Großmütter denken, die gemütlich vor dem Ofen sitzen und die an Gelenkkrankheiten leiden. Ich sage ihnen allen: „Ihr solltet Fahrrad fahren wie die Frauen Münchens, dann würdet ihr all eure Leiden loswerden. Ihr könntet noch besser Kaffee trinken und entspannen.“ München befreit mich vom Auto und spornt mich an, mich täglich zu bewegen; eine Gelegenheit, meinen Füßen freien Lauf zu lassen, die das Laufen auf längeren Strecken vergessen haben, weil mein großes Auto immer vor meinem Haus auf mich wartet. Ja, es sind die Fahrräder, die dir Lebensgenuss und körperliche Behändigkeit verschaffen.

20.09.04

Besuch im Literaturhaus – Begegnung mit Herrn Wittmann

Mit Sehnsucht hatte ich meinen Besuch im Literaturhaus erwartet, wo ich für 12 Uhr verabredet war. Rim Bedair kam zu mir, und wir gingen zusammen zum Termin mit Herrn Wittmann. Wir machten uns auf den Weg; natürlich zu Fuß. Rim erläuterte mir unterwegs immer wieder einige wichtige Sehenswürdigkeiten der Stadt, bis wir ein großes und altes Gebäude erreichten: das Literaturhaus. Herr Wittmann erwartete mich bereits und empfing mich herzlich. Als erstes fragte er mich, ob ich mit meinem Aufenthalt zufrieden sei und was mein erster Eindruck von der Stadt sei. Dann führte er mich durch die Abteilungen des Hauses und machte mich mit den Angestellten und den Zuständigkeitsbereichen eines jeden einzelnen bekannt. Als wir in Wittmanns Büro saßen, erkundigte ich mich nach den Kenntnissen über die arabische Literatur, und Wittmann erwähnte einige berühmte Namen, wie z. B. den großen Dichter Mahmud Darwish und Nagib Machfus, Adonis sowie Tahar Ben Jelloun und den syrischen, im Ausland lebenden Schriftsteller Rafik Schami, der in Deutschland sehr bekannt ist. Dann kamen wir auf das Thema der Übersetzungen zu sprechen und auf die Möglichkeit, Verträge zwischen dem Literaturhaus und den jordanischen Kulturvereinigungen – wie Kulturministerium oder Generalsekretariat Ammans - zu schließen. Und in diesem Zusammenhang erkundigte ich mich nach der Rolle der Kulturabteilungen der Botschaften im Ausland, da die Breite der Übersetzung in andere Sprachen dazu beiträgt, neue Horizonte zu eröffnen und das Bild der arabischen Menschen und ihrer Kreativität zu erhellen. Schließlich gingen wir ins Erdgeschoss hinunter, um Mittag zu essen und unser Gespräch dabei fortzuführen. Wittmann informierte mich darüber, dass Mahmud Darwish nach München kommen würde. Ich freute mich über diese Nachricht, bot dies doch eine passende Gelegenheit, mit Darwish über vieles zu reden. Nach Beendigung unseres Mittagessens ging ich in die Bibliothek des Kunstladens, um zusätzlich zum Schreiben einige visuelle Impressionen zu dokumentieren. Und tatsächlich schaffte ich es, einige Arbeiten zu erledigen, die im Rahmen meiner Lesung und der Hans Pleschinskis präsentiert werden.

21.09.2004

Morgens

1 - Zwei Musiker

Auf dem Weg zum Rathaus, dem Zentrum Münchens, wo mich schnelle Schritte Zielen entgegenbringen, die ich nicht kenne, sah ich ich zwei Musiker – einen Jungen und ein Mädchen -, die Gitarre und Saxophon spielten. Die schnellen Schritte verlangsamten sich, um die Musik zu genießen; Musik, die aus dem Herzen strömte und mich augenblicklich zu einer wichtigen Phase meines Lebens zurückführte: zu meiner Zeit in Beirut. Die zwei Musikanten nahmen mich in meine Traumwelt mit, trotz der sich vermehrenden Schritte um mich herum. Das ist die Musik: Gefährtin der Liebe und der Sorglosigkeit. Sie ist der Akt, der die Sprachen verstummen lässt, denn jeder versteht die Sprache der Musik. Sie filtert die Seelen im Becken der Reinheit. Nachdem das Spiel der Musiker beendet war, warfen die Leute Geldmünzen in den Gitarrenkasten, der auf dem Boden lag und dem Haus des Musikers glich; ein Kasten, der immer begierig darauf wartet, dass die Gitarre in ihn, in ihren Mutterleib, zurückkehrt.

Abends

2 – Die Blinde und der Hund

Mir gefiel diese Straße voll lärmender Lebendigkeit und brechend voll mit Liebespärchen und Alkohol. Eine Straße wie ein großer Kreislauf des Lebens in völliger Freiheit, wo dich niemand stört. Da war diese junge Frau, die von ihrem Hund zum Ziel geführt wurde, ohne einen einzigen Fehltritt. Er ist ihr Liebhaber und ihr Beschützer. Er steht ihr in der Dunkelheit und in allen Momenten der Einsamkeit bei. Er ist für sie ihr Augenpaar, das die Dunkelheit ihrer Blindheit erhellt - die reine Verbindung zwischen den Geschöpfen.

22.09.2004

Das Literaturhaus und die Begegnung mit Rafiq Schami

Bevor ich Rafiq Schami traf, hatte mir Herr Wittmann bereits mitgeteilt, welche Berühmtheit dieser in Deutschland genießt. Rafiq Schami, der Land und Leute verließ, um die Freiheit zu finden. Ja, die Freiheit, und nichts anderes als sie. Pünktlich um acht Uhr erreichte ich das Literaturhaus, um seiner Lesung beizuwohnen. Da war eine Schlange von Menschen, die Eintrittskarten kaufte; so etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen. Der Saal wurde pünktlich geschlossen, es war voll, und einige Gäste mussten außerhalb des Saales zuhören. Das ist eine Gesellschaft, die die Lesung und den Künstler ehrt! Die Lesung begann mit der Vorstellung von Rafiq Schami durch Herrn Wittmann. Danach sprach Schami über seinen neuen Roman, eine Liebesgeschichte, die sich kritisch mit den angeblichen arabischen Demokratien auseinandersetzt. Der Roman hat politisch-gesellschaftliche Dimensionen. Er zeigt das Stocken der Freiheiten in unseren Gesellschaften auf. Schami war schmerzerfüllt, als er darüber und über die Macht der traditionellen Gesellschaft sprach. Nachdem die Diskussion beendet war, stellte Herr Wittmann mich dem Publikum vor, und der Saal begrüßte mich applaudierend. Rafiq Schami übersetzte seine Worte für mich und sagte, dass sie mir Wertschätzung zeigen, und Wittmann bedeutende Worte über mich äußere. Es gibt doch erstaunliche Unterschiede zwischen Veranstaltungen hier und dort.

23.09.04

Münchens Regenzeit

1 - Fenster und Regen

Um zehn Uhr abends - als Jan, ein junger Deutscher, und Rim bei mir waren, begannen Regentropfen gegen mein Fenster zu klopfen und kündigten den Besuch des nächtlichen Regens an. Ein Moment, auf den ich gewartet hatte, um meinen besonderen Ritus im Regen zu praktizieren. An der Fensterscheibe verdichteten sich die Regentröpfchen, bis sie wie dünne Kristallbäche hinunterrannen. Jene Tropfen - die Perlen des Regen - erschienen mir wie ein leerer und weiter Raum von Poesie und Staunen. Denn ich bin eine Kreatur aus Wasser, die der Regen stimuliert und zu einem widerspenstigen Pferd macht. Schnell zog ich mich an, lief hinaus und ließ den Sprühregen mein Gesicht kitzeln. Das ist mein besonderer Genuss mit meinem Freund, dem Regen; ein Moment, fast wie der Höhepunkt der Liebe, aber von anderer Art. Es ist tatsächlich die Vermählung des Himmels mit der Erde, ein Moment der kosmischen Reinigung; der Reinigung des Baums, des Steins und meiner Selbst.

2 - Steinerner Sitz

Während ich im Regen umherspazierte und mich unter seiner glänzenden Vergebung bewegte, sah ich verschiedene Dinge von unterschiedlicher Form, bis mich der Anblick eines steinernen Sitzes fesselte, nicht von Liebenden besetzt. Einsam erwartete er seine nächtlichen Liebhaber, und ich setzte mich auf ihn, um mich von ihm durchnässen zu lassen. Neben mir saßen Regentropfen, und ich beobachtete, wie sie den Durst des Steins löschten. Der Sitz begann zu seufzen wie ein Verliebter: ja, es war der Regen, der ihm das Leben zurückgebracht und seine Einsamkeit zerstreut hatte, und das Wasser auf seinem Körper glich Tinte, mit der Gedichte geschrieben werden, die die Liebe ausmalen.

24.09.04

Der türkische Markt

Ich hatte von diesem Markt gehört. Deshalb ging ich hin, um zu sehen, wie er sich von den lokalen Märkten unterscheidet. Als ich dort ankam, war der Obststand von Menschenmassen umlagert. Auch im Supermarkt hatte ich Waren gefunden, die, wie mir schien, speziell für die türkische und allgemein für die orientalische Gemeinschaft angeboten wurden. Auf diesem Markt jedoch ist alles preiswerter als auf anderen Märkten. Man findet hier Datteln, alle Sorten von Gewürzen und arabisches Brot, das es nur hier gibt. Obwohl sehr klein, ist der Markt ein Ebenbild der Märkte in Amman. Ich kaufte arabisches Brot, das mich an unsere arabischen Speisen in Amman erinnerte, und bereitete mir aus Freude über das Brot ein passendes Gesicht.

Die Galerie im Lenbachhaus

Am gleichen Tag ging ich ins Lenbachhaus, ein Museum, das in einem sehr alten Haus untergebracht ist, welches im Besitz des Künstlers Franz von Lenbach gewesen war. Ich sah mir die Werke von Künstlern wie Kandinsky, Paul Klee, Olaf Metzel sowie viele Arbeiten der Künstlergruppe „Der blaue Reiter“ an. Die Arbeiten von Franz von Stuck erinnerten mich an die Gustav Klimts. Ich betrachtete auch das berühmte Bild „Der Tiger“ von Franz Marc. Die Werke zeigen die Stilrichtungen der Malerei in den verschiedenen Epochen: Naturalismus, Expressionismus, Impressionismus, abstrakte Kunst bis zur Moderne wie die Werke Olaf Metzels, Video-Art und Performance. Sie riefen viele Fragen in mir hervor und ich sagte mir: sie haben uns nichts zu tun übriggelassen, denn sie haben alles getan und sind gegangen.

25.09.04

Regen, Schreiben und Malen

Ich hatte mich schon fertiggemacht, um zum Konzert einer deutschen Gruppe zu gehen, zu dem mich Rim, die Mitglied dieser Gruppe ist, eingeladen hatte. Mein Computer, den ich zum Versenden meiner Texte brauche, bereitete mir jedoch solche Probleme, dass ich hierblieb. Verwirrt von den arabischen Buchstaben, wechselte er ins Deutsche, sobald ich einige Zeilen in Arabisch schrieb. So fasste ich den Entschluss, Deutsch zu lernen und ersetzte das Schreiben am Computer durch das Schreiben auf Papier. Es schien mir, als hausten wir noch immer in Papier. Ich blieb in der Wohnung und schaute durchs ständig offene Fenster auf den strömenden Regen und begann über meine Emotionen zu schreiben, gegenüber einer genussvollen Bitterkeit, die mich auf Traumpfade mitnimmt. Dieser Traum, der meinen Körper regeneriert und ihm eine rätselhafte Kraft verleiht, deren Ursache ich bis jetzt nicht begreifen kann. Es ist das Wasser, das in die Seele der Dinge eindringt und sie transparenter macht. Fairouz, die begnadete Künstlerin, war jetzt nicht anwesend, und weil alle Lieder hier nur in Deutsch oder Englisch zu hören sind, sang ich Fairouz’ Lied: „Regne, oh Erde, oh Erde, regne!“ Mein Schreiben wurde empfindsamer durch den Regen, denn er öffnete mir Fenster zum Schreiben; Fenster voller Licht, die mir den Weg zu neuen Sprachen wiesen. So entstand dieses Gedicht über den Regen mit dem Titel

„Die Waschung mit Licht“:
Seit jener Regen purpurfarben zu mir kam
im gläsernen Bett, um ein Feuer im Herzen zu entfachen
ruhte hier, neben meinem Fenster, das Wasser
und ergab sich meinem Gesang
Gebilde von Bäumen und nassen Tüchern
ich sehe den Regen als Gefäß
darauf wartend, dass seine Pflanze sich verzehrt.

Das Wasser zerfloss auf dem Fenstergriff und verließ mich unbemerkt wie der Traum, zur Rückkehr bereit.

26.09.04

Ausflug nach Schwabing

Die Pinakothek, Museum für moderne Kunst
Ich hatte wie immer meine Kamera dabei, meine Begleiterin auf allen meinen Reisen. Ich ging zum Bahnhof, nahm die Bahn nach Schwabing und lief weiter zum Museum. Als ich dort ankam, strömten schon Menschenmengen durch die Tore. An Sonn- und Feiertagen ist der Museumseintritt frei, so dass ein Besuch dort auf dem Wochenendprogramm vieler Menschen steht. Dieses Museum zeigt Werke moderner Kunst. So sah ich Installationen und andere moderne Experimentalkunst. Die Werke Braques stehen neben den Werken Pablo Picassos, was den Einfluss Braques auf Picasso deutlich werden lässt. Es beeindruckte mich sehr, diese Werke, die ich normalerweise aus Büchern kenne, hier im Original sehen zu können. Es ist ein völlig anderes Gefühl, Bilder im Original zu betrachten, statt Kopien zu sehen. Man spürt die Bewegung des Pinsels und die Emotionen des Künstlers, der sie gemalt hat. Auf der anderen Seite waren die Werke Joan Mirós zu sehen, der von Kandinsky beeinflusst war. Hier sind die Elemente einfach und beeindruckend. Es war ein Rundgang mit großen Künstlern wie Nolde, Arnulf Rainer, Francis Bacon und Colani, dem Schöpfer provozierender Arbeiten.

Die Statuen

In der Innenstadt von München und in den Vororten findet man an jeder Ecke Statuen, die einen anstarren. Es gibt keine Ecke, in der nicht eine Statue oder große, ästethische Denkmäler stehen, die die lange Geschichte der Stadt widerspiegeln. Man sieht, dass ihre Bronze durch die Witterung, durch Regen und Wind, grünlich geworden ist, was ihrer Schönheit einen besonderen Reiz verleiht. Diese Figuren sind Wächter der Geschichte. Alle architektonischen Bauwerke, ob alt oder neu, sind mit einer Figur geschmückt, die eine Sage oder ein historisches Ereignis symbolisieren. Sie heben die Leere eines Platzes auf, machen ihn freundlicher und vertrauter. Sie sind Gefährten von Haus, Straße und Mensch. Man hat das Gefühl, sie treten aus ihrem Schweigen heraus, sie sprechen mit dir und begleiten dich unterwegs. Die meisten Statuen der Stadt zeigen ihre Kraft durch die Details der muskulösen Körper von Mensch und Pferd. Es ist eine realistische Schule der Kunst, die den Ruhm der Völker und ihrer Geschichte dokumentiert.

27.09.2004

Brunnen der Verabredungen

Dieser Brunnen liegt am Rathausplatz. Von vier Figuren getragen, die ihn von allen Seiten umringen, scheint er der Quell zu sein, an dem sich Reisende und Verliebte treffen, um sich von dort wieder in alle Richtungen zu zerstreuen. Der Brunnen ist zum festen Bestandteil meines täglichen Lebens geworden. Ich suche ihn auf, um den Tauben zuzusehen, die sich nach ermüdendem Flug waschen. Die Tauben verwandeln sich in Fußgänger, tippeln den Passanten hinterher und picken im aufgewirbelten Staub der Schritte herum. Der Brunnen gleicht einem Wasserrad, in das die Seelen sich ergießen. Drum herum versammeln sich die Kameras, die ihn millionenfach aufnehmen, als wolle der Reisende im Moment des Fotografierens dort seine Seele registrieren. Der Brunnen jedoch trinkt ihre Bilder eines nach dem anderen und registriert sie durch Löschung.

28.09.04

1 – Der Mann – das Götzenbild

Die Straßen und Vororte Münchens halten viele Überraschungen bereit, die nur von neuen Besuchern bemerkt werden können. Als ich umherschlenderte und mich in einer mir unbekannten Straße befand, wurde ich Zeuge einer merkwürdigen Szene: Der Platz war brechend voll von Menschen, die sich um eine bronzene Figur scharten. Ich blieb stehen und schaute mir die merkwürdige Figur und die Ansammlung der Leute um sie herum genauer an und entdeckte, dass es ein lebender Mensch war, der sich bewegte, der mit den Augen blinzeln und atmen konnte. Er hatte seinen ganzen Körper wie eine Statue mit goldener Farbe bestrichen, um den Leuten so eine Vorstellung zu geben. Der Mann, der sein Schweigen zum Beruf macht und damit sein Brot verdient, begrüßte die Zuschauer von Zeit zu Zeit mit einem Handschlag, um sich im nächsten Moment wieder in eine Statue zu verwandeln, die seit Tausenden von Jahren erstarrt schien. Will dieser Mann in seinem Innersten durch sein täglich demonstriertes Schweigen gegen die schmerzende Welt der Schnelllebigkeit und der Globalisierung Protest erheben? Und wie blickt er auf die Menschen im Moment der Starre, während in seinem Innern ein unsichtbarer Vulkan toben mag, den er allein und niemand anders kennt? Dieser Mann erinnerte mich an eine Gruppe von Künstlern, die ihren Körper zum Protest benutzten. Er ist so ein Dadaist, der seinen eigenen Schmerz ausdrückt, indem er das Schweigen zum Beruf macht und sich in eine wandernde Figur verwandelt, welche die Menschen im Moment ihrer Starre anstarren. Trotz der Ungewöhnlichkeit dieser Szene ging mir eine Frage durch den Kopf: „Wie schläft dieser Mann, diese Figur wohl?“ Eine Frage, die nur die Figur selber beantworten kann.

2- München am Abend

Ich ging nach draußen, um – wie immer am Abend - einen Spaziergang zu machen. Das Wetter war schön, und die Leute waren es auch, während ich zu einem mir unbekannten Viertel aufbrach. Jeden Abend versuche ich, eine neue Richtung einzuschlagen, um die Stadt kennenzulernen – ohne Führer und ohne Karte. Die Abende und mein Herumtreiben in München brachten mir Erinnerungen an mein Herumstrolchen zu Beginn der neunziger Jahre zurück, und ebenso die Vitalität des Schreibens. Denn das Schreiben ist für mich der stete Drang nach neuen Abenteuern mit Menschen und Orten; ich meine ein Verwobensein mit dem Leben selbst, da diese Abenteuer einen Vorrat für das Schreiben bilden und mich vieles erkennen lassen. Während meines Spaziergangs stand ich plötzlich einer mir ungewohnten Szene gegenüber: ein Platz voller deutscher Sicherheitskräfte, von denen einige in schwarze und andere in olivgrüne Uniform gekleidet waren. Außerdem stand dort dichtgedrängt eine Menge ihrer Fahrzeuge. Die Polizei schien einsatzbereit für irgendein Ereignis zu sein, und ich begann die Szene mutiger zu beobacheten und staunte darüber, dass alle Leute ihr Treiben wie gewohnt fortsetzten, als habe das alles keine Bedeutung für sie. Ich sah die Käufer, die Fotografierer, die wie immer ihre Erinnerungsfotos machten und den Gitarrenspieler, der ununterbrochen für die Leute spielte und sang. Das Verhalten der Menschen beruhigte mich und ich setzte meinen Spaziergang fort, machte einige Besorgungen und kehrte dann sicherheitshalber wieder ins Hotel zurück; Polizeisirenen klangen mir noch in den Ohren nach.

3- Literaturhaus – Zeitungsinterview

Am Nachmittag desselben Tages führte die Süddeutsche Zeitung ein Interview mit mir durch, die bedeutendste deutsche Zeitung, wie ich erfuhr. Die Übersetzerin des Gesprächs war Rim Bedair, die die Mühe der Übersetzung auf sich nahm, weil sie meinte, meine Sprache sei sehr schwer, obwohl ich sie in den meisten Fällen schon vereinfache. Die Fragen war sehr präzise, und die Journalistin hatte eine Akte von mir dabei, die ich genau und kritisch studierte. Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, dass sie schon alles über mich wusste. Die Fragen drehten sich anfangs um die Bedeutung von Dichtung und Kultur und um die Zahl der Leser in der arabischen Welt. Ich war völlig frei in meinen Antworten, für die ich allein verantwortlich war, und die ungeschminkt waren. Schließlich kamen auch die bekannten Fragen zur Politik, zur Bedeutung des Islam und zur Demokratie in Jordanien. In Deutschland ist man angetan vom jordanischen Beispiel, und ich konnte einige wichtige Aspekte der jordanischen Politik erläutern, die den Weg des Liberalismus eingeschlagen hatte. Ich nahm auch eine entschiedene Position gegenüber denjenigen ein, die das Bild des Islam entstellen; und ich konnte erklären, das der Islam die Religion ist, die die arabische Halbinsel aus der finsteren Epoche der Unwisssenheit zum Licht geführt hatte, und ich betonte dabei, wie der Prophet Mohammad mit Gefangenen umgegangen war. Danach kamen wir wieder auf meine künstlerischen Erfahrungen und auf meine Eindrücke über München zu sprechen, bis wir beim Thema Regen landeten. Die Journalistin wollte das Gespräch noch fortsetzen, da sie es interessant fand, aber ich hatte noch einen anderen Termin im Hotel - und hier muss man Verabredungen einhalten! Es war ein wirklich wichtiges und angenehmes Treffen.

29.09.04

Morgens

Lass alles andere und geh zum Fluss!
Zur Zeit der frischen Morgendämmerung über München stand ich eilig auf, so als ginge ich auf Reisen. Ich zog mich an und fragte mich: „Wohin willst du eigentlich, Mohammed“, als mir auch schon eine Idee kam; und ich sagte mir: „Lass alles andere und geh zur Isar!“ Auf dem Weg dorthin kamen mir Visionen und Bilder in den Sinn, Erinnerungen an meine Kindheit am Jordan. Damals bewachten mein Bruder Ali und ich das Wassermelonenfeld, weil mein Vater sich um meine kranke Mutter kümmern musste. Es war mir, als sei alles erst gestern gewesen. Ich beeilte mich, zum Fluss zu gelangen. Es war halb sieben Uhr morgens, und ich sagte mir, Ali wartet sicher schon auf dich unten an der Isar, wo wir als Kinder immer schwimmen gingen. Das erste Abenteuer erlebten wir im Jordan, neben dem Melonenfeld, das meinem Vater gehörte. Dieses Feld ließ das Grün in uns wachsen und verlieh uns himmelblaue Flügel zum Fliegen.
„Lass alles andere und geh zu deiner Seele
lass alles andere und bade in der Isar
dort, unter hochragenden Bäumen und den Laken des Schattens
bist du allein im Schoß des Wasser beim Glockengeläut
ganz allein für dich, alleine mit dem Wasser
bade, wie du magst und treib dein verrücktes Spiel mit den Mänteln der Schatten
hier in der Isar – vollkommen gleicht alles dir und deinem ersten Fluss
lass alles andere, geh rüber zum anderen Ufer
du findest dort Ali, das Jagdgewehr im Griff
das unser grünes Feld vor Schaden bewahrt
lass alles andere und nimm nur auf, was Ewigkeiten dir nehmen
steh nicht in Schlangen an, dir Hab und Gut zu kaufen
bist doch ein sprühender Funke eines strahlenden Sterns
ein Funke, der auf den Sinn der Geschöpfe verweist
Isar, du Jugendfreund des Jordan, Freund deines Bruders
Isar, die ihr Bad im spiegelnden Grase nimmt
die mit ihrem Kies deine Trauer löscht
lass alles andere, geh hin zu deinem Bruder, dem Fluss.

Abends
Paradiesbalkone

In München erinnert alles an Frische und Stärke. Die alten und soliden Gebäude haben Balkone, die vor lauter Blumen überquellen und aussehen wie hängenden Gärten. Die Blumen bewirken, dass du mit klarem Blick die Schönheit siehst und Respekt vor dem Anblick und der Wahrnehmung hast. Die Blumen auf den aneinandergereihten Balkonen präsentieren Rottöne in allen Schattierungen - wie die roten Wangen Münchner Frauen. Die Balkone mit ihren Blumen breiten einen samtenen Teppich über die Aussenfassaden der Häuser. Häufig schauen die Fußgänger Münchens nach oben, so als bliebe ihr Blick an der Schönheit dieser Balkone hängen. Ja, sie sind es wert, mit Liebe und Freude betrachtet zu werden. Wie viele schöne Frauen haben ihren Kaffee auf diesen Balkonen getrunken, dessen Duft mit dem der Rosen vermischt ist. Das sind die Balkone, sie gleichen ganz den Frauen Münchens!

30.9.2004

Donnerstag
Treffen beim Rundfunk

Das Treffen mit der Journalistin Heike Haffner war ein sehr vertrautes und privates Treffen. Sie hatte ihre Fragen mit den Informationen vorbereitet, die sie im Internet über mich in Erfahrung gebracht hatte. Es ging um meine Familie und meine Neigungen. Ich war direkt und ehrlich in meinen Antworten, denn für mich ist jedes Wort mit einer großen Verantwortung gegenüber meinen Lesern verbunden. Die interessanteste Frage, die sie an mich richtete, war die nach dem Geruch der Städte. Als sie schilderte, wie sie den Geruch Münchens empfinde, erwiderte ich, dass ich ein Hund der Gerüche sei und Menschen und Orte am Geruch erkenne, und dass der Geruch Münchens dem Geruch des Waldes gleiche. Ich sagte ihr, wie froh ich darüber sei, in der kalten Jahreszeit hierher gekommen zu sein, denn ich sei ein Regengeschöpf, verehre das Wasser und möge es, mich vom Regen – insbesondere vom nächtlichen Regen - durchnässen zu lassen. Denn der Regen verleihe mir eine ungewöhnliche Energie im Schreiben und in der Liebeslust. Ja, es ist der Gedanke vom Aufeinandertreffen der weit voneinander entfernten Erde und des Himmels, der Geruch hier ist eine Mischung von Wasser, frischem Gras und den Blättern der Bäume. Ich entdeckte, dass Heike Haffner derselben Gewohnheit nachging wie ich: im Regen spazieren zu gehen. Es war eine Begegnung bei der Wahrheit des Wassers und seiner Bedeutung für Mensch und Natur. Dann fragte sie mich nach der Religion, und ich antwortete, dass ich an die Menschen und an die Liebe glaube, was im Einklang mit jeder Religion stehe, und dass ich an anderen Religionen nicht in dem Maß interessiert sei wie am Menschen selbst und an seiner Liebe zu anderen Menschen und am Leben. Denn das Leben ist es wert, dass wir es – trotz Schmerz – auf schöne Weise leben.

01.10.04

München im Bierzelt

Herr Wittmann hatte mich schon gefragt, ob ich Lust hätte, ins Bierzelt mitzukommen, und ich war überrascht, stimmte dieser Idee aber sofort zu. Um ein Uhr begaben wir uns zur Metro, die uns zum Zelt bringen sollte, das in meiner Vorstellung sehr klein sein musste und daher ein Abenteuer versprach. Als wir ausstiegen, waren dort bereits große Menschenmengen, die auch in Richtung des Platzes strömten, wo das Fest sein sollte. Ich fragte Herrn Wittmann, warum es so viele Leute hier gab. Wittmann lachte und sagte: „Beim Fest selbst wirst du noch ein Vielfaches dieser Menge sehen.“ Als wir an den Rand des Platzes kamen, rieben sich die Menschen Schulter an Schulter aufgrund des dichten Gedränges. Das war ein unerwartetes Bild für mich, und mit einem Mal war ich mitten drin, mitten auf dem größten Bierfest der Welt. Das hatte ich vorher nicht gewusst; die Menschenmassen übertrafen alle meine Vorstellungen. Einen Augenblick lang fühlte ich mich wie am Tag der Auferstehung des Bieres, und ich traf auf Menschen aus aller Herren Länder. Den Gedanken an die großen Menschenmassen hatte ich schnell hinter mir gelassen, um Teil von ihnen zu werden. Auf dem Weg zum uns zugewiesenen Platz sah ich die schweren Pferde, die mit Bierfässern voll beladene Wagen zogen, sowie Stände, von denen der Geruch von gegrilltem Fisch ausging. Junge Mädchen verkauften speziell für dieses Fest gefertigte Hüte; andere wiederum verkauften traditionelles Brot. Es war eine einzigartige bayrische Szenerie, die völlig einem kollektivem Gastmahl glich, das für die Bewohner der Erde vorbereitet wird; ein kosmisches Mittagessen.
Währenddessen erreichten wir den uns zugewiesenen Platz, von dem aus man alles überschauen konnte. Du stößt auf Menschen jeden Alters, die gemeinsam tanzen und singen. Alle gehen dorthin, um Spaß zu haben, und um das ganz frei auszuleben. Unser Tisch vereinte uns – Wittmann, mich, einen anderen Freund, dessen Ehefrau und sechs Mädchen aus dem Literaturhaus – wie eine Familie. Wir sangen zusammen, und man brachte mir ein Wort bei, das man sagt, wenn man weitertrinken will: „Gsuffa!“ Jedes Mal, wenn sich die Musik erhob, erhoben auch wir die schweren Krüge und sangen „Gsuffa!“ Es war ein Moment des bloßen Menschseins fern von Ideologie und nah der Liebe, und die Krüge setzten ihre Runden fort, bis wir fühlten, dass wir hierher gekommen waren, um zu trinken und im Bier zu baden. Ja, es war ein Augenblick des Badens im Bier und im Spaß.

Bilder vom Fest

1 - Duft von Gegrilltem

Bis zum Horizont des Festes dringt der Duft von gegrilltem Fisch und Fleisch in deine Nase und lädt dich unmittelbar zum Trinken ein. Ein Duft, der dich an die Festessen erinnert, wenn in den Dörfern Hochzeit gefeiert wird. Alles hier hat seinen besonderen Reiz, und es scheint mir, als sei es das Trinken, das allen Dingen reichlich diesen Reiz verleiht. Es sind Genüsse, Mischungen von Alkoholbenommenheit mit dem Geschmack des Gegrillten, rätselhafte Genüsse, die alles prachtvoller aussehen lassen.

2 – Der Bierfluss

Ich hatte mich nach der genauen Anzahl der Festbesucher erkundigt, und es hieß, dass es sechs Millionen Menschen seien. Ich staunte über diese Zahl und rechnete die Biermengen zusammen: Wenn jeder Einzelne nur drei Liter Bier trinkt, entspräche das einer Gesamtmenge von 18 Millionen Litern, gleich dem Wasser, das in Münchens Isar strömt. Das gesamte Bier wird in Deutschland produziert, und das Brauereigewerbe reicht weit in die Geschichte zurück. Es wird von keinem übertroffen außer von den Pharaonen, die ihr bierartiges Rauschgetränk „Buza“ nannten. Sie stellten es aus Gerstenwasser her. Ich jedoch bin fest davon überzeugt, dass die Deutschen von allen Völkern der Welt das meiste Bier trinken.

3- Der Schriftsteller Gamal al-Ghitani inmitten der Szene

Im Überschwang des Lachens und des Bieres sagte Wittmann plötzlich zu mir: „Ameri, schau nur – dort ist al-Ghitani!“ Sofort blieb ich stehen und schrie laut: „Gamal, komm rüber zu uns!“ Und nach ein paar Minuten kam al-Ghitani, und wir begannen, uns über unser erstes Treffen während eines Freundschaftsfestivals vor etwa sieben Jahren zu unterhalten, auf dem Gamal und ich, Baha Taher und der verstorbene Dichter Abd al-Wahab al-Bayyati anwesend waren. Und als ich von meinem an al-Ghitanis Tisch wechselte, sagte Gamal: „Es tut mir leid, dass ich dich von den schönen Frauen wegführe“, und wir setzten das Gespräch fort. Al-Ghitani war mir sehr gewogen und sagte mir: „Ich gehöre zu den Bewunderern deiner Schriftstellerei, Mohammad, und ich bitte dich, deine Tagebucheinträge bei uns in den ‚Nachrichten der Literatur’ zu veröffentlichen. Wir wurden uns einig und unterhielten uns weiter über die finsteren Kräfte in den arabischen Ländern und vor allem über die konservativen Richtungen, die der persönlichen Freiheit des Schreibens entgegenstehen. Kurz darauf entschuldigte sich al-Ghitani und sagte: „Ich muss mich noch für die heutige Lesung im Goethe-Institut vorbereiten; wir sehen uns noch, Mohammad.“ „Ja, natürlich“, sagte ich, und kehrte zu meinen Freunden an den Tisch zurück, um weiter zu tanzen und zu singen.

4 – Ein Hut für al-Ghitani

Während ich mich mit al-Ghitani unterhielt, kam ein hübsches bayrisches Mädchen auf uns zu. Über seinem zarten schimmernden Unterarm trug es eine Auswahl speziell zum Oktoberfest gefertigter Hüte. “Schau, wie schön sie ist“, sagte al-Ghitani. Wir im Orient lieben offensichtlich blonde Mädchen, denn um uns herum herrschen Brauntöne vor. Gamal schwärmte noch weiter von ihrer Schönheit, bis er sagte: “Bitte, Mohammad, kauf ihr einen Hut ab, mir zuliebe“, was ich ohne zu zögern tat, obwohl er teuer war. Dieser Hut wurde nun zu einer Kuriosität, denn die Freunde setzten sich ihn nacheinander auf, um sich so fotografieren zu lassen; al-Ghitani sah damit wie ein Bayer aus, vor allem weil er Zigarillos rauchte. Mein Hut war das Gesprächsthema unserer geselligen Runde, und meine deutschen Freunde setzten ihn fortwährend auf, so als sei er ein Zauberhut, der unsere Freude vervielfacht. Er heimste sich mehr als vierzehn Köpfe ein und war nicht länger nur mein Hut, sondern auch der meiner Freunde. Es waren Momente, so unschuldig und spontan wie die Kindheit, die Kindheit einer Kreatur im Augenblick des Staunens und der Freude.

5 - Mitreißende Musik

Vom Podest des Zeltes aus blickte ich staunend auf die Bilder tanzender, singender und trinkender Menschen; von hier aus überblickt man das ganze Fest mit seinen enormen Mengen von Menschen, weit mehr als fünftausend. Hier ist kein Platz für Traurigkeit, und es schien mir, als löse der gemeinsame Spaß direkt Leidenschaft und Heiterkeit der Dinge aus; so wie sie wirklich sind. Die beweglichen Körper, das Rosenrot der Wangen, das Schimmern des goldenen Bieres und das Erwachen aller Sinne macht dich zu einem völlig anderen Menschen, einem Menschen, der für Freiheit und Leben Partei ergreift. Die mitreißende Marschmusik trägt noch dazu bei; sie lässt Leidenschaft in den Seelen auflodern und erhitzt die Körper noch stärker, als es das Aneinanderreiben beim Tanz vermag, so dass die Menge wie ein einziger Körper erscheint, vereint durch Musik und Lebendigkeit. Dann brach al-Ghitani auf, um sich auf seine Lesung im Goethe-Institut am Abend vorzubereiten. Wir einigten uns darauf, unser Gespräch am Vortragsabend fortzusetzen, und ich kehrte zu meinen Freunden und Freundinnen zurück, um weiter zu singen und zu trinken. Augenblicke eines süßen Traums, der Liebeslust und Schreiblust in mir entzündet.

6 – Brotreifen

Was mir ausgesprochen fremd erschien, war die Form des traditionellen bayerischen Brotes. Gesalzenes Brot, das aussieht wie ein Rettungsring. Brot, das in rhythmischen Linien erscheint und den Verzierungen an den Fassaden der alten Gebäude Münchens gleicht. Es ist eine uralte Tradition auf diesem Fest und gehört zu seinen wesentlichen Elementen. Du siehst es in den Händen der Kinder, bei den Verkäufern, auf den Tischen, stets neben dem alles überragenden Bier, so als gäbe es eine feste Beziehung zwischen Brotform, Verzierung der alten Häuser und den Stickereien auf der traditionellen Kleidung. Das Brot, das ich oft und begeistert fotografiert habe, ist wie der Kreis, der alle Nationalitäten in einem einzigartigen Gemeinschaftsspaß vereint.

7 – Hinweisschilder

In der Nähe unseres Tisches sah ich ein Hinweisschild in deutscher Sprache. Ich fragte, was dieses Schild hier auf dem Fest bedeute. Man sagte mir: „Das Stehen auf den Tischen ist aus Sicherheitsgründen untersagt.“ Später erkannte ich, wie notwendig diese Schilder sind, wenn sich in maßloser Begeisterung das Tanzen vom Boden nach oben auf die Tische verlagert. Die Schilder sind vernünftige Warnungen, um Menschen vor Schaden an Leib und Leben zu schützen, aber sie bleiben bloße Schilder, da das Tanzen alles beherrscht in Momenten, die keiner vernünftigen Erklärung bedürfen.

3.10.2004

Sonntag, 3. Oktober, morgens um halb fünf
Isargedichte

1 – Das Silber des Flusses

Auf galoppierenden Wassern, dicht beim Schatten, treiben wir
einbäumiges Boot schwimmt in unserem Blut; Tränen tropfen auf sein Deck
am Knie des Flusses beten wir, die Wolken und ich
aus den Büchern der Liebe lesen wir bis zur Trunkenheit
für die Isar
Tücher von Wolken benetzt, bis Regen fällt
Mir war nicht klar: Ich bin der Einzige, der ihr Wasser schöpft,
eine Handvoll
und noch eine Handvoll
und dann ruh’ ich mich aus
als hätte das verrückte Wasser Wolken in uns aufgewirbelt
die wir in Kissen füllen nah beim Flussbett
um nur eine Zeile über den Schlaf zu schreiben
ausgeliefert unserer Angst vor dem Weggang
Das ist der Fluss – der Sohn der Wolken
und die Schattentür zu den Bäumen.

2 – Die Koketterie des Flusses

Der Fluss sucht mich zu locken
die Bäume auch – mit luftigem Schatten, der auf den Früchten schläft
hier neben seinem Silber
zuckt der Blitz auf wie ein Schwert in der Hand
welchen Weg wird er wohl nehmen
um einmal zügellos zu schlummern?
Sucht er, der Fluss, die letzte Weisheit im Ertrinken?

3- Wasserkissen

Isar, Wasserkissen – auf ihren Federn schlafen Mädchen aus bayrischen Dörfern
wo sie vom Reiter aus den Bergen träumen
und kommt er dann auf dem Rücken der Gräser geritten
– warte auf ihn
mit all deiner Weiblichkeit, bis er verweht
aufstöhnende, heftige Liebe gießt Wein und Feuer in sein Herz
lass ihn seinen purpurnen Ring der Liebe widmen
wenn er das Zaumzeug der Sinne löst
lass ihn dann stürzen unter der Rüstungslast
bis er zurückkehrt
lass ihn schlafen – sei’s nur ein einziges Mal ohne Krieg
lass ihn doch später ins Nichtdasein schweifen
lass ihn verweilen ohne Pferd bei deinem wiehernden Gelächter.

04.10.2004

München, 4. 10. morgens, um halb vier Uhr

Das Herz der Stadt

Diese Stadt, die so flach ist wie ein Teppich aus klarem Grün, erlaubt es jedem, ihren Körper zu betasten und mit Leichtigkeit zu ihren Sinnen zu gelangen. Du kannst die Musik ertasten, angefangen von der bayerischen über afrikanische bis hin zum Jazz oder zu indianischer Musik, die in den Straßen Münchens aufs Neue erklingt und auf die Tragödie dieses Volkes hinweist, das einst fast ausgerottet wurde. Die Stadt, die alle diese Nationalitäten aufnimmt, ist eine Stadt mit großem, weitem Herzen. Die Stadt München, die mit dir Gefühle tauscht, dich durch ihre Straßen begleitet, als sei sie dir schon immer bekannt, weil sie dich von jeher liebte und dein besonderes Lied mir dir sang. Das Lied in deinem tiefsten Innern, das in den Momenten deiner Einsamkeit in dir aufklingt, traurige Sehnsucht nach dem Nichts. Sie ist die Mutter, ihr täglicher Glockenklang – wie ein Kirchenlied – weckt deine Sinne und kriecht in dein Bett. Die Glocken brechen das Schweigen auf, machen dich wach und rufen zu neuer Freude auf. In solchen Momenten taucht man in den Spiegel der Seele ein. Die Seele – Regentin leidenschaftlicher Liebe, Rebellion und lauten Lachens. O Stadt, ich sehe, wie du dich wiegst wie ein wunderschöner Pfau. Alles an dir erinnert mich daran, wie schön das Leben ist und wie die Kreatur zum Garten der Hoffnung strebt. Seit ich deine Nacht kenne, weiß ich, dass du zum Schreiben und zum Lieben zwingst. Leidenschaftlich liebst du Tinte und Liebesbriefe, während sie an deiner durchscheinenden Seele vorbeigehen. Nur hier liegt der Duft des Waldes in der Luft, der deine Straßen zur Ruhe bringt und deinen Heimweg mit Wohlgeruch betupft. Du bist die einzige, die mich ganz nackt erlebt, befreit von allem, was die Freude verhüllt. Das ist die Verschmelzung meines Körpers mit dir, Mutter Stadt! Jetzt kann ich dich richtig beschreiben; da ist die Nacht neben mir mit ihren Sternen und mit ihrem goldenen Saft, der in den Gläsern glänzt wie das Auge eines Hahns. Ja, jetzt kann ich alles in dir erkennen und höre noch die Benommenheit von gestern, und alles in dir erinnert mich an dich. Jetzt kann ich mein Lied für dich singen, zum Lob deines feinen Grases und deines mit feinem Kies geflochtenen Flusses. Jetzt kann ich behaupten: Ich liebe alles an dir, sogar deine Behäbigkeit.

05.10.2004

Ihre Musik war wie ein Funken Hoffnung

In einer Straße voller Menschen – Schulter reibt sich an Schulter, und der Atem kommt nah und heiß - hatte sich trotz des kalten Wetters eine indianische Musikergruppe niedergelassen. Ihre traurige Musik begann zu schluchzen. Es war die Musik der Mayas, Inkas und Azteken, Nachfahren von Überlebenden der Stämme, die die Invasoren Amerikas ausgerottet hatten. 18,5 Millionen von ihnen hatten sie getötet. Ihre Dörfer und Städte wurden zerstört. Die Amerikaner haben sie in dreiundneunzig Seuchenkriegen mit allen Mitteln vernichtet, wie der amerikanische Schriftsteller Henry Dunis in seinem Buch “Ihre Zahl nahm ab“ schrieb. Dieser ursprüngliche Stamm lebte auf seinem unversehrten Boden in Reinheit mit traditionellen Riten, mit Musik und Pferden. Diese Musikergruppe kam hierher, als wollte sie den alten Ruf wieder in Erinnerung bringen, der noch irgendwo in den Köpfen nachklang. Der Ruf einer schönen Vergangenheit, einer Vergangenheit der Musik, die der Ausrottungskrieg nicht hatte einfangen und zum Schweigen bringen können. Da sind sie mit dem Rest ihrer schlichten Musikinstrumente, setzen ihr fernes Lied fort, das in ihrem Blute kreist. Ihre Musik gibt die Verfassung ihrer Seelen wieder, ihr Streben nach Leben und Hoffnung, mittels ihrer Flöten und Fußreifen, mittels ihrer Laute, Metalle und Trommeln, die sie damals auf Gefahren aufmerksam machten. Diese Musik ist nicht in Vergessenheit geraten. Das Erinnern hat seine tiefgreifende Wirkung auf ihr Herz, seitdem sie ihre Heimat und ihre Leute verloren haben. Der Auftritt war wie der wiederkehrende Sieg ihrer Fruchtbarkeitsgöttin Tirawa. Ich stand hier, um genussvoll ihre Musik zu hören, eine Musik, die einer eleganten Quelle glich, leidenschaftlich sprudelnd, um in die Seelen einzudringen wie sehnsuchtsvolle Regentropfen. Es ist der Sieg der Göttin Kankun, der Regengöttin in der Indianerkultur. Die Musik drang zu den Passanten vor, um sie zum Stehenbleiben zu bringen. Und spontan begannen die jungen Leute Münchens zu den Rhythmen der Inkamusik zu tanzen; der Kreis der Tanzenden flammte auf und wurde größer, und auch ich begab mich hinein wie ein indianischer Tänzer. Es ist der Genuss einer fernen Freude, der die Bedeutung dieser Musik unterstreicht, vor allem die der Trommelrhythmen, die dich an elegantes Jagdwild erinnern, so dass du dich in den Melodien frischer Wälder wiederfindest. Was meine größte Bewunderung erregte, war der Flötenspieler, der auf mehr als zwanzig Flöten verschiedener Größe spielte, als sei er der Gott der Winde, der, wenn er in ihr Inneres bläst, sie in wunderschöne Töne verwandelt. Da war mir klar, dass die Maschinerie der amerikanischen Ausrottung nicht den Bambus hatte vernichten können, aus dem die Flöten gefertigt sind. So hatten sie auch nicht die Vögel töten können, deren Federn die schönen Masken schmückten. George Washington und danach Thomas Jefferson hatten sich geirrt im Glauben, sie könnten die Indianer völlig ausrotten. Die Musik wird immer wieder neugeboren durch die Luft und weitervererbt. Der amerikanische Historiker Francis Bacon meinte, die Indianer seien selber verantwortlich für die Vernichtung, die ihnen widerfuhr, weil sie die Zivilisation nicht entwickelt hatten und daher zwangsläufig ausradiert werden mussten. Die Fröhlichkeit dieser einladenden Musik macht seine Aussage null und nichtig.

Christines und Madjdis Haus

Ich hatte Christine und Madjdi bereits auf dem Oktoberfest kennen gelernt, und sie luden mich zum gemeinsamen Abendessen mit dem Schriftsteller und Freund Edward al-Kharrat ein. Zwei Tage später suchte ich ihr Haus auf: Nummer 192 in einer Parallelstraße zur Isar. Als ich ankam, empfingen mich Christine, Barbara vom Goethe-Institut im Irak und Edward al-Kharrat sehr freundlich; ich hatte al-Kharrat schon einmal in seinem Haus in Zamalek in Kairo besucht. Zunächst sprachen wir – in Englisch – über die politische Lage in den arabischen Ländern; dabei machte die Situation im Irak den größten Anteil unserer Diskussion aus. Wir überlegten alle zusammen mit Barbara, wie wir den Irakern helfen könnten. Wir waren uns über die Notwendigkeit einig, etwas für die irakischen Kinder zu tun und sie wieder aufzurichten. Es war ein schmerzliches Gespräch, und wir verurteilten das Geschehen dort heftig. Unsere Gedanken gingen alle in die Richtung, dass auch die Europäer Präsenz im Irak zeigen und das Land nicht den Amerikanern allein überlassen sollten. Trotz des Schmerzes war unser Beisammensein bedeutungsvoll, vertraut und freundlich. Wir begannen mit dem Essen. Es gab italienische Küche, die Madgdi hervorragend beherrscht. Doch der Tisch, um den es eigentlich ging, war unsere Diskussion mit all ihren besonderen Aspekten. Das Haus von Madjdi und Christine hält dies alles aus; ein Haus wie ein kleines Museum, voller Bilder und Bücher. Wir setzten später unser Gespräch über die Politik fort, aber diesmal ging es um die religiösen Strömungen im Irak, die durch das Eintreffen ähnlicher Richtungen aus aller Welt dort entstanden sind, und es ging um kollektiven Völkermord. Edward al-Kharrat meinte, er sei vom Vorgehen der Amerikaner nicht überrascht, da ihre Geschichte von Vernichtung geprägt sei. Sie machten jetzt nichts anderes als das, was sie einst mit den Indianern machten. Am Ende unseres Gespräches bekannten wir uns alle zur Notwendigkeit der Öffnung und der Demokratie als grundlegende Lösung. Die Runde beendete die bittere Diskussion mit italienischen Süßigkeiten.

Günther Grass, der Computer und ich

In meiner ersten Woche in München hatte mich ein Problem sehr durcheinander gebracht. Das Problem bestand darin, dass der Computer meine arabischen E-Mails nicht verstand; natürlich schreibe ich in Arabisch. Als ich die Texte in Arabisch ausdruckte und verschickte, verwandelten sie sich in eine Sprache, die mit keiner Sprache der Welt noch etwas zu tun hatte. Es waren Bilder von Buchstaben, die längst vergangenen und toten Sprachen glichen, und das Durcheinander ergriff auch die Verantwortlichen im Literaturhaus. Sie schickten mir zwei Computerspezialisten, was den verfluchten Apparat jedoch unberührt ließ. Das Problem blieb bestehen, bis wir die Lösung fanden, die Texte den Übersetzern per Fax zu senden. Ich hasste den verfluchten Apparat, der meine Sprache nicht so übertragen wollte, wie ich es wünschte. Mir schien, als übertreffe die Energie der arabischen Sprache die gebündelte technische Leuchtkraft, so dass ich mich mit den Übersetzern auf Englisch verständigen musste. Denn normalerweise schreibe ich nicht direkt in den Computer, sondern zuerst auf Papier, da die Flächen des weißen Papiers und die der schwarzen Tinte mir visuelle Weiten bieten, die den Texten mehr Reichtum geben. Eine meiner Gewohnheiten ist es, auf demselben Blatt vom Schreiben zum Malen zu wechseln, da das Malen den Text mit wichtigen Energien unterfüttert, die für mein Schreiben von Bedeutung sind. In diesem Moment erinnerte ich mich an die Haltung des deutschen Schriftstellers und Nobelpreisträgers von 1999, Günter Grass, der in einem Interview mit der Zeitung „al-Scharq al-awsat“ im Jahr 2000 sagte: „Das Seltsame daran ist die Unablässigkeit dieser scheußlichen Sache, das weiße Blatt, mit dem ich anfangen will, und jedes Blatt fängt mit Weiß an, und ich muss es beklecksen. Ich schreibe alle meine Entwürfe mit der Hand, ich meine mit Stift und Papier.“ Und er fügte im selben Interview hinzu: „Ich liebe es, zu malen und im ersten Entwurf Szenen und Bilder zu planen. Es hilft mir, die Dinge zu sehen und zu ordnen.“ Ja, ich bin wie Günter Grass in diesem Punkt, ich liebe den Tintengeruch und die Oberfläche des Papiers; von da aus beginne ich mit dem Stadium des Spielens und Malens, bis das Schreiben seinen Lauf nimmt. Das Malen führt mich in mächtige sprachliche Welten und trägt dazu bei, den Text und seine Form lebendiger zu machen. Das geht nicht per Computer. Ich war froh, dass der PC meine arabischen E-Mails nicht ganz verstand, denn ich werde nun zu meinen vielen Papieren gehen und mit dem Schreiben und Malen beginnen. Ein Glück im Unglück liegt darin, dass meine Beziehung zu Tinte und Papier emotional und glühend ist; sie wird nicht durch den kalten Monitor entflammt. Ich liebe es, den Stift auf den Körper des Papiers zu drücken, und ich mag den Kontrast von Schwarz und Weiß. Es ist die sexuelle Beziehung zwischen dem Schwarz der Tinte und der Weiblichkeit des Papiers.

06.10.04

-1- Von München nach Frankfurt

Am 5. Oktober um zwei Uhr morgens, einige Stunden vor der Abfahrt nach Frankfurt, überfiel mich eine starke Traurigkeit; es war wie ein erster Abschied von München, der Stadt, die ich liebte, und die mich liebte. Ein Abschied, der sich in meinem Zimmer und in meinem für die Buchmesse gepackten Koffer verdichtete. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr nach München zurückzukehren und so stürmten die Bilder und die Erinnerungen an diese Stadt in einem einzigen Augenblick auf mich ein und brachten mich durcheinander. Was war bloß los mit mir, schließlich würde ich doch schon in vier Tagen wieder zurück sein? Mir schien, dass es um die Beziehung zwischen der Seele des Geschöpfes und der Seele der Stadt ging, samt aller in ihr verwobenen menschlichen Beziehungen. Wie konnte ich diese Verwirrung genauer benennen? Ich fand keinen Schlaf an diesem Tag, an dem die Nacht mit dem Tag verschmolz. Es waren wohl meine tiefsten Erinnerungen, und ich fügte meinem Tagebuch eine neue Seite der Liebe zu; die Liebe zum Ort, ihre Offenbarung und das Verschwimmen der Zeitgrenzen. So wurde die Stadt zum Hauptbestandteil meiner Erinnerungen, und ihre Konturen gruben sich tief in meine Seele und mein Gefühl ein. Als ich meine Reisevorbereitungen beendet hatte und gierig eine nach der anderen geraucht hatte, um meiner Verwirrung Herr zu werden, rückte die Abreise immer näher; der Zug sollte am Morgen um halb sieben losfahren. Ich nahm ein Taxi zum Bahnhof. Der Fahrer war Deutscher türkischer Herkunft. Seine Familie war mit den ersten Gastarbeitern Anfang der sechziger Jahre nach Deutschland gekommen. Wie sprachen über die Türkei, und er erinnerte sich wieder an das, was der Vater über das Vaterland sagte: dass es eine geheimsnisvolle Sehnsucht nach dem Geburtsort gibt. Unsere Unterhaltung endete am Bahnhof, wo der Zug nach Frankfurt abfuhr. Einige Minuten später saß ich bereits auf meinem reservierten Platz. Der Zug fuhr los wie eine verrücktgewordene Schlange auf Schienen. Ich hatte einen Fensterplatz und sagte mir, dass dies eine gute Gelegenheit sei, neue Orte sehen und genießen zu können. Die Details der Hügel und der grünen Berge ließen mich die Länge der Strecke und die Fahrtdauer vergessen, die etwa vier Stunden betrug. Das ist ein Genuss besonderer Art, wenn lauter Szenen und wunderschöne Naturbilder an dir vorbeiziehen. Die Zugfahrt war für mich eine rasche Verfolgungsjagd mit den Augen, um möglichst alles auf dem Weg nach Frankfurt zu erfassen, während wir mehrere Städten passierten: Augsburg, Stuttgart und Mainz. Herrliche Gemälde folgten eins aufs andere: die Wälder, die mit roten Dachziegeln gedeckten Häuser – Paradiesgärten, von Bergen und Tälern umarmt. Es schien, als seien die Häuser dieser Städte aus dem Schoß des Berges hervorgegangen, der sie bewacht und liebevoll für sie sorgt. Überrascht erblickte ich eine Gruppe spielender Rehe auf einer eingezäunten Wiese, sorgfältig für sie geschaffen, deren Farbspiel sich mit den eleganten Bewegungen der Rehe bewegte und changierte. Nach zwei Stunden hielt der Zug im Stuttgarter Hauptbahnhof, und einige Reisende nach Frankfurt stiegen zu. Die meisten von ihnen wollten zur Buchmesse - ein wichtiges Ereignis für die Deutschen. Neben mir im Raucherabteil saß eine junge Frau. Sie sah nicht wie eine Deutsche aus. Wir zündeten uns eine Zigarette an und kamen ins Gespräch. Auch sie war Deutsche türkischer Herkunft. Es bestand ein merkwürdiger Unterschied zwischen dem türkischen Fahrer, der mich zum Bahnhof gebracht hatte und dieser jungen Frau, die in Stuttgart in der Buchbranche arbeitet. Im Verlauf unseres Gesprächs erfuhr sie, dass ich Schriftsteller und Maler bin, was sie sehr interessant fand. Ich lud sie zu meiner Lesung im Literaturhaus am 11. Oktober ein, und sie sagte, dass sie an diesem Tag Geburtstag habe. So schlug ich ihr vor, zu meiner Lesung zu kommen; dann könnten wir anschließend ihren Geburtstag feiern. Es war eine verrückte und schöne Idee. Da sie Muslimin war, kamen wir auf die Islamisten zu sprechen, die dem Islam schaden und einen negativen Einfluss auf die muslimischen Gemeinschaften in aller Welt haben, und ich betonte die Notwendigkeit, dass die arabischen Institutionen energisch darauf hinarbeiten müssten, dieses Bild zurechtzurücken. So erreichten wir Frankfurt. Wir trennten uns, und ich ging zu dem verabredeten Ort, an dem Corinna mich erwartete, um mich gemeinsam mit den Kollegen Osama Esber, Ibrahim Farghali und Latifa Baqa ins Hotel zu begleiten, wo wir uns ausruhten, um anschließend zur Messe zu gehen. Diese Reise war der reine Kinofilm.

- 2- Frankfurter Buchmesse

Diese Messe ist ein Phänomen, das für die arabische Welt ganz ungewohnt ist. So etwas ist noch nie dagewesen: ein Zustrom von Publikum, das aus fernen Ländern in Zügen anreist, um an diesem Ereignis teilzuhaben. Ein Publikum wie hier habe ich zuvor auf keiner unserer Messen gesehen. Ein Phänomen, das uns zum Verweilen einlädt, und das absolut keinen Vergleich zwischen hier und dort zulässt. Das unermüdliche Streben nach Wissen als Teil der sozialen Struktur ist eine Erscheinung der deutschen Gesellschaft; sie zeigt die Tiefe der Beziehung dieser Gesellschaft zur Kultur, und sie zeigt, mit welchem Respekt die künstlerische Leistung und auch der Künstler gewürdigt werden. Obwohl der Eintritt zur Messe nicht kostenlos ist, nimmt die Besucheranzahl von Tag zu Tag zu; am letzten Tag jedoch ist der Eintritt dem Normalbesucher verwehrt. Er bleibt speziell den Mitwirkenden der Messe vorbehalten. Die Kultur ist hier eine Notwendigkeit im täglichen Leben. Hier geht das Buch mit dem Einzelnen in Zügen, Cafés und entspannten Momenten auf Reisen; das Lesen ist ein alltäglicher Vorgang, mit dem sich niemand groß tun will. Das lässt die unglückliche Lage des arabischen Lesers oder des Lesers in der dritten Welt sehr deutlich erkennen. Die schmerzlichen Widersprüche haben für den arabischen Künstler und den arabischen Verleger ein gleiches Ausmaß erreicht, denn der Grund, dass es in Deutschland den professionellen Verleger gibt, liegt darin, dass es auch den professionellen Leser gibt; ein Aspekt, der hier durch eine gesetzliche Beziehung von Angebot und Nachfrage bestimmt wird. Ich behaupte sogar, dass Verleger und Künstler in unseren Ländern Kämpfer sind, die die Glut der schöpferischen Kraft trotz aller Hemmnisse bewahren. Wenn wir die Arbeitstätigkeit in Deutschland mit denen in der arabischen Welt vergleichen, sehen wir bei uns die Menschen entspannter und gelassener als in Deutschland, wo die Menschen stets fleißig in privaten und öffentlichen Institutionen arbeiten. Die Statistiken der Unesco belegen den geringen Stellenwert des Lesens in unseren Ländern. Infolgedessen gibt es grundlegende Probleme in der Art, wie man über den Bürger selbst denkt und über die Art seiner Bildung, durch die man Wissen erstrebt und erlangt. Bei uns gibt es bedeutende Künstlerpersönlichkeiten, die sowohl darauf warten, bei uns gelesen zu werden als auch auf eine Gelegenheit warten, dass ihre Werke in andere Sprachen übersetzt werden. Denn eine politische Rede allein kann die Lage nicht deutlich genug darstellen. Vielmehr muss man aktiv an den kulturellen und gesellschaftlichen Hebeln ansetzen. Das sind die bittersten Unterschiede im Vergleich von hier und dort.

3- Café Extrablatt

Ich hatte das strapazierende Herumlaufen auf der Buchmesse hinter mir – wie in einer kleinen Bücherstadt, für die der Besucher mehr als eine Woche braucht, um alle ihre Abteilungen kennenzulernen. Ich fühlte mich an diesem Tag wie auf einem Marathonlauf. Osamer Esber, der syrische Schriftsteller, und ich wollten ein Restaurant aufsuchen, um etwas zu essen, wobei wir von Frankfurt nichts kannten; außer, dass es eine Großstadt ist, bekannt für Industrie, Geschäftsleute und Geld. Aber das half uns nicht, Straßen, Bars oder Restaurants zu finden - wobei es offenbar hier keinen Unterschied zwischen Café, Bar und Restaurant gibt – so wie bei uns. So zogen wir planlos von einer Straße zur nächsten und genossen das spontane Entdecken der Dinge: der begrünten Straßen, der ruhigen Häuser, der völligen Ordnung, in der sich alles hier bewegt, begleitet vom zarten und leisen Regen, der unsere Gesichter kitzelte und unserem Schlendern und Herumlaufen einen zusätzlichen Genuss bescherte. Wir waren wie zwei Schatten, die von einer Gasse in eine neue Straße ziehen; es war eine Reise der verlorenen Richtungen, bis wir plötzlich vor einem Laden namens „Café Extrablatt“ standen, Restaurant und Bar. Als hätten wir einen kostbaren Schatz entdeckt, gingen wir sofort hinein und bestellten Bier und Pizza Margharita. Der Ort machte uns gelassen und fröhlich und verlieh unserem Gespräch ein ästhetisches Flair, wie durch die Küsse Liebender geschaffen, die sie vor unseren Augen tauschten. Nach all diesen Genüssen kehrten wir zum Hotel zurück - mit Hilfe der Adresse, die wir uns aufgeschrieben hatten aus Angst, unseren Schlafplatz nicht wiederzufinden. Es war ein Tag wie die Nässe der Straßen, bestreut mit gelb bemalten Blättern, ein Teppich, gewebt von der leichten Hand des Windes